Vor einigen Wochen war ich bei einem interessanten Vortrag der Autorin Anke Richter, die in Neuseeland lebt und sich als Sektenjournalistin bezeichnet. Sie hat in mehreren Sekten recherchiert, aber auch persönliche Erfahrungen in spirituellen Bewegungen gesammelt und sich darüber Gedanken gemacht. Da die Bedeutung des Themas teils weit über Sekten hinaus reicht, möchte ich einige Erkenntnisse und Eindrücke hier festhalten.
Spirituelle Gruppen, religiöse und alternative Sekten …
Anke Richter stellte verschiedene Sekten und Gruppen vor und beschrieb die Strukturen und Dynamiken, die dort wirken. Es ging besonders um die Sekte Centrepoint in Neuseeland, sie erwähnte aber auch Osho/Baghwan sowie populäre spirituelle Angebote wie Tantra (westliches Neotantra), mit denen sie persönliche Erfahrungen gesammelt hatte. Sie war vor allem bei der International School of Temple Arts (ISTA, Link zur engl. Wikipedia) unterwegs gewesen. Kurz zur Sprache kamen auch Evangelikale, Zeugen Jehovas, Multi Level Marketing, Life Coaching, die ehemalige Yoga-Schule Agama in Thailand … man sieht schon, das Thema reicht in die Mitte der Gesellschaft hinein.
Anke Richter sprach über heftige Fälle, die international Schlagzeilen machten, besonders was die sexuelle Ausbeutung der Mitglieder anging. Vor allem Frauen und Kinder waren davon betroffen, dadurch passte ihr lebendiger Vortrag mit dem trockenen Titel „Geschlecht in Sekten“ gut in den Rahmen des Gender Salons der LMU München.
Auf den zweiten Blick handelte ihr Vortrag aber auch von problematischen Strukturen, die sich überall entwickeln können. Daher kann das Thema für alle relevant werden, die in Bewegungen, Gruppen und Organisationen unterwegs sind. Gerade dort, wo man idealistisch ist und glaubt: Bei uns doch nicht, wir sind doch die Guten, weil wir Ideale haben und für das Thema xy stehen.
Thesen zu Sekten und anderen totalitären Gruppen
Anke Richter betonte zum Einstieg vier allgemeine Punkte:
1. Jede/-r ist anfällig.
2. Anfangs fühlt es sich gut an.
3. Das Problem ist das System, die Machtstrukturen.
4. Jede Gruppe kann sich totalitär entwickeln.
Das kann es alles auch innerhalb seriöser Organisationen und an sich harmlosen Bewegungen geben, je nachdem, welche Bedürfnisse und Persönlichkeiten dort gerade aufeinander treffen. Zum Beispiel, wenn ein charismatischer Anführer (meist männlich) hinzu kommt, der zum Einsatz für die Sache oder die Bewegung motiviert, die Selbstaufgabe der Mitglieder fördert und womöglich seine Ego-Trips auf einzelne Mitglieder oder die Gruppe ausdehnt. Das können manche Mitglieder und Teilnehmerinnen erleichtern und befördern, wenn sie ihn zu sehr idealisieren und aufs Podest stellen. Solche Probleme beginnen nicht erst, wenn etwas strafrechtlich relevant wird oder es Metoo-Schlagzeilen gibt, sondern können sich allmählich und oft unbemerkt aufbauen.
Recherchen und ein Buch über Therapie- und Sex-Sekten
Anke Richter hat ein Buch über Sekten geschrieben. Einer der Schwerpunkte ist die ehemalige Sex- und Therapiesekte Centrepoint in Neuseeland, in der das Oberhaupt viele Frauen und Kinder sexuell ausnutzte, teils mit Hilfe illegaler Drogen. Hier gab es Parallelen zur früheren Kommune des Aktionskünstlers Otto Mühl in Österreich (Link zu Wikipedia). Dort lehnte man Zweierbeziehungen ab und ließ Kinder im Kollektiv aufwachsen, einen persönlichen Vater gab es dort gar nicht. Zwischen den beiden geographisch weit entfernten Sekten entstanden sogar persönliche Verbindungen: Eine Frau aus dem inneren Kreis von Centrepoint hatte z.B. 1987 die Otto-Mühl-Kommune im Burgenland besucht.
Für solche Sex-Sekten ist es typisch, dass die Mitglieder zu einem freizügigen Lebensstil ohne Monogamie gedrängt werden, was nicht immer ihren persönlichen Bedürfnissen entsprechen muss. Ein gewisser Druck in diese Richtung kann auch außerhalb von Sekten in spirituellen oder politischen Strömungen vorkommen. Für konservativ-religiöse Sekten gilt eher das Gegenteil: Anke Richter hat auch über die christlich-fundamentalistische Kommune Gloriavale in Neuseeland recherchiert – die Grafik auf dem Buchcover symbolisiert deren einheitliche Tracht. Hinter der frommen Fassade war es aber zu körperlicher und sexueller Gewalt gegen Kinder gekommen, die Kinder wurden sogar dazu gedrängt, den Tätern zu verzeihen. Anke Richter hat insgesamt den Eindruck, dass die Gesellschaft in Neuseeland gegenüber Sekten eher naiv eingestellt ist und sie als Kuriosum betrachtet, während in Deutschland etwas besser aufgeklärt wird.
CULT TRIP – das Buch von Anke Richter über Sekten
„CULT TRIP: Inside the World of Coercion and Control“ gibt es nur im englischen Original. Das Kindle-E-Book kostet nur 2,69 Euro (Werbelink / Affiliate / Amazon setzt nach dem Klick auf den Link oder das Bild ein Cookie). Es ist direkt nach dem Kauf auf dem Computer, Laptop oder Tablet lesbar.
Anke Richters Interesse am Thema begann mit einer persönlichen Suche in spirituellen Kreisen und mit eigenen Erfahrungen mit alternativen Lebensformen. Sie sagte in einem Podcast-Interview: “Dass ich dieses Buch überhaupt schreiben wollte, lag daran, dass ich mich auch privat mit Themen wie Polyamorie und Sexual Healing befasst und auch selbst Kurse belegt habe. Es ist ein sehr kompliziertes, weites Feld (…)“
Mechanismen der Macht und des Zusammenhalts
Anke Richter nutzt das Wort CULT aus ihrem Buchtitel auch als Akronym, als Abkürzung für Begriffe, die typisch für Sekten sind: “C steht für Control, Coercion – auf Deutsch Zwang und Kontrolle. U steht für Unity, also Zusammenhalt – man glaubt an etwas Gemeinsames, hat ein gemeinsames Ziel: Niemand ist allein in einer Sekte, eine Sekte ist immer eine Gruppenerfahrung. L steht für Love – da ist auch immer viel Liebe, viele Menschen gehen mit absolut guten Intentionen und viel Liebe an die Sache heran, und das ist ja auch das, was Außenstehende vielleicht oft nicht so verstehen – das Gute führt zum Bösen, denn ohne das Gute wäre ja niemand dabei. T steht für Transformation, also Veränderung.” (Zitate aus dem oben verlinkten Interview, Hervorhebungen von mir.)
In den Sekten, spirituellen Bewegungen und Angeboten suchen Menschen die persönliche Transformation, zum Beispiel in Kursen und Seminaren, wodurch sich etwas im Leben ändern soll oder ein Knoten platzen. Manchmal sind es einfach die Glückshormone, die uns bei intensiven Erfahrungen überfluten können und Menschen glauben lassen, jetzt sei alles neu und anders. In anderen Bewegungen geht es vielleicht um die gemeinsame Arbeit für die Transformation der ganzen Gesellschaft, hin zum Besseren – das Gute kann alles Mögliche sein.
Die Liebe oder die Illusion davon kann den Suchenden und Umworbenen in Form von Verführung (auch im weiteren Sinn) und Love Bombing begegnen. Das kann sich laut Anke Richter anfühlen wie Verliebtheit. Man könnte wohl auch sagen, Love Bombing kann wirken wie der gewisse Sog, der von manchen narzisstischen Persönlichkeiten ausgeht und für den manche Menschen empfänglicher sind als andere. Auch die Suche nach Gemeinschaft spielt oft eine Rolle, das kann nach der kontaktreduzierten Pandemie und in anderen schwierigen Zeiten besonders wichtig sein.
Daher beschränken sich die geschilderten Probleme nicht zwingend auf irgendwelche Sekten da draußen, mit denen man höchstens dann zu tun hat, wenn die Zeugen Jehovas an der Tür klingeln. Die Zeugen Jehovas sind übrigens ein gutes Beispiel für Kontrolle, denn den Mitgliedern dieser strengen Religionsgemeinschaft ist es nicht erlaubt, persönlichen Kontakt mit Aussteigern zu halten – das ist sogar strikter als bei der Fundi-Sekte Gloriavale in Neuseeland.
Taz Talk mit Anke Richter über Sex- und Psychosekten
Wer selbst ein Gespräch mit Anke Richter hören möchte, sollte sich auf Youtube die Aufzeichnung eines Taz Talks ansehen. Weiterer Gast in der Folge „Esoterik, Sex und Psychosekten“ war Ondra Veltruský, der sich als Sexualcoach besonders mit dem Thema Konsens befasst. Das gut einstündige Gespräch moderierte der Taz-Redakteur Jan Feddersen, im letzten Drittel kam das Publikum zu Wort.
Video: Taz Talk am 4. Juli 2023 mit Anke Richter und Ondra Veltruský