Erholung im Alten Nördlichen Friedhof – Archivbild vom 20. März
Am späten Nachmittag im Alten Nördlichen Friedhof: Die Sonne scheint, etliche Menschen gehen spazieren, einige joggen auf den Wegen die Friedhofsmauer entlang. Manche Kinder spielen irgendwo, denn die Spielplätze sind geschlossen. Andere Menschen sitzen allein oder zu zweit auf den Bänken, fast jede Parkbank ist besetzt. Nur ein Besucher fällt unangenehm auf – der Mitarbeiter einer Security-Firma, der durch den parkähnlichen Friedhof geht und der Reihe nach Besucher anspricht, die auf einer Parkbank sitzen: Sie sollten sich wegen der Ausgangsbeschränkungen nur kurz im Freien aufhalten.
Das war an diesem Freitag. Der Security-Mitarbeiter sprach sogar einen ganz offensichtlich gehbehinderten Mann an, der einen klobigen Therapie-Schuh trug und seine bunten Krücken an die Parkbank gelehnt hatte. Darauf fragte ich den Security-Mann, wer ihn geschickt hatte: Die Friedhofsverwaltung der Stadt München. Vor einigen Tagen standen noch zwei Polizisten vor einem Friedhofstor herum, ohne sich einzumischen. Heute schrieb mir ein Bekannter, eine Polizistin habe im Alten Nördlichen Friedhof alle in Ruhe gelassen, wogegen er vom Kreisverwaltungsreferat aus dem Alten Botanischen Garten vertrieben worden sei.
Wieso das Personal der Stadt München die Vorschriften strenger umzusetzen scheint als die bayerische Polizei, lässt sich an diesem Wochenende vermutlich nicht aufklären. Vielleicht hat es mit dem Hausrecht in den Parkanlagen zu tun: Der Englische Garten gehört zum Beispiel dem Freistaat, die Friedhöfe sind städtisch. Aber es bleibt die Frage: Warum dieser Übereifer?
Kritik: Oppositionspolitiker für Erholung im Freien
Immerhin regt sich Protest gegen die bayerischen Ausgangsbeschränkungen: Letzten Sonntag kritisierte der SPD-Landtagsabgeordnete Florian von Brunn auf seiner Website und auf Facebook einige Details. Es geht vor allem um zwei Punkte: Die Konsequenzen für allein wohnende Singles, die praktisch niemand mehr persönlich treffen dürfen. Und die starken Einschränkungen der Erholungsnutzung im Freien:
Der Aufenthalt im öffentlichen Raum, also auf Straßen, Wegen und Plätzen, und in der Natur muss unter Beachtung der Pandemie-Regeln – Abstand von mindestens 1,5m – alleine, mit dem Partner und der Familie grundsätzlich möglich sein. Die Einschränkung, dass man Sport treiben oder Spazierengehen muss, ist meiner Ansicht nach falsch. Viele Menschen gerade in der Stadt haben keinen Garten und oft auch keinen Balkon. Was spricht dagegen, wenn sie sich alleine auf eine Bank in die Sonne setzen oder mit ihren Kindern alleine in der Wiese sitzen (wenn es nicht gerade im Englischen Garten ist)?
Das Statement zog einige Veröffentlichungen nach sich, darunter sind ein kurzer Artikel in der Bayerischen Staatszeitung und ein Interview in der Münchner Abendzeitung.
Ein Blick nach Wien – es geht auch anders
In Österreich gelten derzeit mehr oder weniger dieselben Ausgangsbeschränkungen wie in Bayern, Markus Söder hat sie anscheinend von dort übernommen. Auch in Wien haben die öffentlichen Parks und Grünflächen verschiedene Eigentümer: Wien hat eigene Parkanlagen, es gibt aber auch die Bundesgärten, die auf das Kaiserreich zurückgehen: Schlosspark Schönbrunn, Augarten, Burggarten, Belvederegarten und Volksgarten.
Nachdem an einigen sonnigen Tagen in den Bundesgärten sehr viel los gewesen war, wurden sie von den zuständigen Behörden geschlossen. Die Folge war, dass sich die Wiener Bevölkerung umso dichter in den städtischen Parks und auf der Donauinsel drängte. Doch der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) ruft nicht dazu auf, dass die Leute möglichst daheim bleiben sollen. Er appelliert, dass die Bundesgärten wieder geöffnet werden – mit ganz ähnlichen Argumenten wie Florian von Brunn in Bayern.
Doch die Gefahren durch das Coronavirus werden in Wien insgesamt ernster genommen als in München: Am selben Wochenende, an dem in München noch gelassen die Kommunalwahl abgehalten und auf der Messegelände die Briefwahl ausgezählt wurde, ließ der Wiener Bürgermeister in einer Messehalle präventiv ein Großlazarett oder Betreuungszentrum für leichte Fälle mit Coronavirus aufbauen. Und Mitarbeiter der städtischen Energieversorgung sind mittlerweile freiwillig in Isolation, damit die Versorgung keinesfalls gefährdet wird.
Bayern und Österreich – warum so strenge Regeln?
Betrachten wir die Sache chronologisch rückwärts: Die Ausgangsbeschränkungen wurden in beiden Ländern am Nachmittag des 15. März verkündet, in Bayern waren die Wahllokale noch geöffnet. Was war passiert? Am Freitagabend war ganz Tirol vom Robert-Koch-Institut zum Risikogebiet erklärt worden, in Österreich vier Tage später. Dass es im Skiort Ischgl ein Problem mit dem Coronavirus geben musste, hatten die Behörden in Island allerdings schon am 5. März bemerkt und diesen Ort zum Risikogebiet erklärt.
Mehr zur Chronologie des Versagens in der Süddeutschen Zeitung sowie in der „Welt“ über die Drehscheibe Ischgl – mit Verbreitungskarte, basierend auf Mobilfunkdaten.
Kommunalwahl in Bayern aus der Perspektive als Schriftführerin, als gerade wenig los war
Die Schlamperei in Ischgl hat auch Bayern viele zusätzliche Coronavirus-Infektionen eingebracht, die Nachverfolgung der Ansteckungsketten durch die Gesundheitsämter funktionierte im März endgültig nicht mehr. Also mussten drastischere Schritte für die gesamte Bevölkerung her, die schließlich am Wahlsonntag verkündet wurden. Über die politische Verantwortung (zum Beispiel der Tiroler ÖVP) für den Skandal spricht man lieber nicht. Mittlerweile ermittelt aber die Staatsanwaltschaft Innsbruck in der Angelegenheit Ischgl.
Was die praktischen Probleme mit dem Coronavirus angeht, sind Südbayern und Österreich tatsächlich in einer ähnlichen Lage, auch wenn Bayern mittlerweile rund doppelt so viele offizielle Fälle hat wie Österreich. Markus Söder steht im Kampf gegen das Coronavirus fest an der Seite des österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz, dem er ohnehin politisch verbunden ist. Beide inszenieren sich seit bald drei Wochen als starke Krisenmanager.
Ich frage mich aber: Wieso nimmt der wiedergewählte Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) in diesem Schauspiel bereitwillig die Rolle des obersten Hilfssheriffs ein und lässt seine Bürger per Security und Kommunaldienst von den Parkbänken scheuchen? Warum nimmt er sich kein Beispiel an seinem Kollegen Michael Ludwig von der Wiener SPÖ? Ist Wien in einer besseren Position, weil es keine Kommune ist wie München, sondern ein Bundesland? Oder ist die Münchner SPD einfach zu nett für den eigentlich fälligen Konflikt? Fragen Sie ein SPD-Mitglied, vielleicht weiß jemand eine Antwort.
Ausgangsbeschränkungen in den deutschen Bundesländern
Wie sieht es in den anderen deutschen Bundesländern aus? Jemand hat am 28. März eine Tabelle auf Twitter hochgeladen, die zeigt, dass es große Unterschiede gibt. Einige Details haben sich seitdem geändert. In Berlin war zum damaligen Zeitpunkt der Einkauf im Buchladen erlaubt, das Sitzen auf der Parkbank verboten, mittlerweile ist beinahe umgekehrt: Ab sofort ist es erlaubt, maximal zu zweit oder mit Familienangehörigen, mit denen man einen Haushalt teilt, auf einer Decke in einem Park oder auf einer Parkbank „kurz“ auszuruhen, berichtet der RBB.
Auch in Bayern wird man nicht während des gesamten Frühlings verbieten können, dass sich Menschen in die Sonne setzen, ein Buch lesen und im Freien entspannen. Es gibt keine medizinische Begründung dafür, nach dem Einkaufen oder nach dem Sport sofort wieder nach Hause zu gehen: Wir sind nicht im Krieg, es ist kein Atomkraftwerk explodiert, wir müssen nur ausreichend Abstand voneinander halten.
Update vom Mittwoch, den 8. April
Am Ende meines heutigen Spaziergangs sah ich, wie zwei Security-Männer durch den Alten Friedhof gingen und sahen sich auf den Wegen und Wiesen umschauten. Einzelne Menschen auf Parkbänken sprachen sie offensichtlich nicht an. Wie jetzt auf Menschen reagiert wird, die allein oder mit Kindern auf einer Decke im Gras liegen, wird sich vielleicht ein andermal zeigen.
Und die Süddeutsche schreibt über Bayerns große Parkbank-Posse – offenbar hat es sich das Innenministerium jetzt anders überlegt. Als ich die Erstfassung dieses Blogartikels schrieb, wusste ich noch nicht, dass sich der ÖDP-Stadtvorsitzende beim Parkbanksitzen hatte verhaften lassen, sonst hätte ich ihn selbstverständlich auch erwähnt.
Irene Gronegger
Mein Hintergrund: Ich lebe seit 1991 in der Münchner Maxvostadt und habe hier Geographie studiert. Außerdem war ich mit DAAD-Stipendium in Wien, um meine Nebenfächer zu vertiefen. Dabei habe ich mich auch mit der Planung und Nutzung öffentlicher Freiräume befasst. Was die Politik angeht, bin ich parteilose Wechselwählerin.
Wohl wahr.
Ich vermute, dass mit zunehmender Dauer des Szenarios und zunehmender Wärme die Menschen sich immer weniger gängeln und in den Wohnungen zurückhalten lassen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Trotzreaktion „Mir doch egal“ oder die Fragwürdigkeit der Maßnahmen die Leute wieder raustreiben.
Und wenn dann die harten Bußgelder verhängt werden, von denen der Innenminister gestern wieder drohend sprach, trifft es in erster Linie genau wieder diejenigen, die sich eben kein Häuschen im Grünen mit Garten drumherum oder Feldern/Wald gleich nebenan leisten können.
Das birgt noch enormen Zündstoff.
Noch hält der immense moralische Druck, der durch die Politik, Heerscharen an Virologen, Medien, socialmedia etc. aufgebaut wurde (#wirbleibenzuhause), dass jeder, der es wagt, die Ausgangsbeschränkungen bewusst zu verletzen oder deren Recht- und Verhältnismäßigkeit öffentlich zu diskutieren, an den Pranger gestellt wird. Aber wie lange noch?
Vielleicht führen Schikanen in der Stadt sogar dazu, dass die Ausflüge ins Umland zunehmen. Autofahrer können dabei gut auf Distanz zu anderen Menschen bleiben, aber in der S-Bahn sieht es wieder anders aus.
#stayoutside and keep distance ;-)