Der Streit um die Stolpersteine in München

Viele Münchner kennen die kleinen Messingplatten aus dem Fernsehen oder aus anderen Städten: Die Stolpersteine erinnern an Opfer des Nationalsozialismus, meist direkt vor den Häusern, in denen sie lebten, bevor sie verhaftet wurden.

Die Stolpersteine sind ein dezentrales Mahnmal, das der Künstler Gunter Demnig entwickelt hat. Ihre Qualität liegt darin, dass die Betrachter im Alltag und oft an unerwarteter Stelle darauf stoßen und die eingravierten Namen lesen.

Erinnerung auf dem Fußboden

Gedenktafeln an Hauswänden müssten von den Eigentümern der Gebäude genehmigt werden, was bei schwierigen Erinnerungen nicht unbedingt gewünscht ist. Für Verlegungen auf dem Gehweg sind die Kommunen zuständig. Aus diesem Grund wurde auch das Denkmal für den Ministerpräsidenten Kurt Eisner, der 1919 hinter dem Bayerischen Hof erschossen wurde, im Jahr 1989 in den Gehweg der Kardinal-Faulhaber-Straße eingelassen. Ein Stadtführer des DGB-Bildungswerks erklärte einst, dass Kritiker den Rost im Gehweg „Fußabstreifer“ nannten:

Kurt-Eisner-Denkmal

Allerdings ist die Zustimmung der Gemeinden für solche Installationen meist einfacher zu bekommen als die von Hausbesitzern, sodass wohl auch Stolpersteine aus derart pragmatischen Gründen so zahlreich verlegt wurden. Europaweit sind es fast 50.000, die meisten Stolpersteine erinnern an Juden, manche auch an andere Verfolgte. Das Geld stammt aus Spenden, ein Stolperstein aus Demnigs Manufaktur kostet derzeit 120 Euro.

Stolpersteine im Kunstpavillon

In München gibt es keine Stolpersteine im öffentlichen Raum, weil der hiesige Stadtrat die Verlegung nicht genehmigt hat. Man findet sie lediglich auf einigen privaten Grundstücken, drei Stolpersteine wurden im Kunstpavillon im Alten Botanischen Garten untergebracht.

Hier lassen sich unterschiedliche Reaktionen beobachten: Menschen, die die Stolpersteine erstmals bemerken, die Inschrift lesen und darauf achten, sie nicht zu betreten; Besucher, die sie nicht beachten und darüber laufen oder im Gedränge einer Vernissage darauf herumstehen; ahnungslose Kinder, die darauf herumspielen. Hier ein Blick in den Pavillon (Bilder von der vergangenen Ausstellung „Mensch“, hier die kommende Ausstellung):

Stolpersteine im Kunstpavillon München

Im Streit um die Stolpersteine kollidieren zwei konträre Blickwinkel: Aus der Sicht des Künstlers Demnig und seiner Unterstützer ist es eine symbolische Verbeugung vor den Opfern, wenn sich Betrachter bücken müssen, um die eingravierten Namen auf den Stolpersteinen zu lesen. Aus der Sicht der Kritiker werden die Namen und Schicksale der Verfolgten mit Füßen getreten, wenn Menschen unbedacht oder absichtlich darüber laufen.

In München hat sich der Stadtrat bis jetzt der ablehnenden Sichtweise angeschlossen. Die einflussreichste Vertreterin ist Charlotte Knobloch, Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG), die einen guten Draht zum ehemaligen Oberbürgermeister hatte.

Leider ist ein Teil der Stolperstein-Befürworter mittlerweile damit beschäftigt, Charlotte Knobloch ihre unumstößliche Haltung und ihren Einfluss persönlich übel zu nehmen, ihr eine diktatorische Übermacht zuzuschreiben und sich selbst in eine ohnmächtige Rolle zu phantasieren, statt sich auf die Sache zu konzentrieren. Das lässt sich sogar öffentlich in der Facebook-Gruppe „Stolpersteine München“ nachlesen.

Stolpersteine mit unwürdigen Inschriften

Dabei sind manche Probleme offensichtlich, auch für viele Befürworter der Stolpersteine. Die Hamburger Taz-Redaktion stolperte letzten Herbst über Nazi-Jargon auf den Messingplatten: Auf einigen sind Begriffe aus der NS-Justiz wie „Rassenschande“ eingraviert, um die Art der Verfolgung zu zeigen. Unscheinbare Anführungszeichen sollen der Distanzierung dienen, was nicht jeden überzeugt.

Demnig hatte kein Verständnis für diese Kritik, wie auch der kleine offene Brief zum Thema auf seiner Website zeigt – er unterstellt der Taz gar unredliche Absichten, ebenso der Jüdischen Allgemeinen (abgekürzt mit „JA“): „Bei mir keimt gerade ein Misstrauen: Wollen Sie diese Begriffe nicht auch gleich in den GerichtsAkten schwärzen und anschließend aus den Geschichtsbüchern löschen lassen?“

Wenn das Demnigs letztes Wort sein sollte, wird es wohl nicht viel helfen, dass manche Akteure mehr um Vermittlung und Ausgleich bemüht sind. Dieses Jahr soll der Stadtrat neu entscheiden, ob es in München Stolpersteine geben wird, ein Hearing mit Befürwortern, Gegnern und diversen Fachleuten hat bereits stattgefunden. Die CSU ist überwiegend gegen die Stolpersteine, die SPD eher dafür.

Demnig und seine Stolpersteine

Manchen Münchnern ist gar nicht klar, dass die Stolpersteine das Konzept eines einzigen Künstlers sind, das auch urheberrechtlich an seine Person gebunden ist und nicht etwa „public domain“. Demnig könnte die Verlegung jederzeit beenden, wenn er in den Ruhestand geht und die Rechte am Konzept nicht auf andere übertragen möchte.

Außerdem kann Demnig die Zusammenarbeit mit einer Kommune jederzeit aufkündigen, wenn er beispielsweise städtische Vorgaben als unzulässige Einmischung empfindet. Wie sehr sich Demnig mit seinem Projekt identifiziert, lässt ja schon die Website spüren. Auch deshalb könnte es sinnvoll sein, über andere Formen des Erinnerns nachzudenken und sich nicht zu sehr auf die Stolpersteine zu fixieren – ob sie nun erlaubt werden oder nicht.

Nachtrag 1: Keine Stolpersteine in München

Laut Süddeutsche.de einigten sich die Rathausfraktionen von SPD und CSU am Montag darauf, dass es in München keine Stolpersteine geben wird. Dass es jetzt so plötzlich ging, liegt womöglich daran, dass der Ältestenrat nicht einbezogen wurde. Statt der Stolpersteine soll es in München Gedenktafeln an Häusern geben, bei fehlender Zustimmung der Eigentümer Stelen auf öffentlichem Grund.

Falls München tatsächlich eine gelungene Alternative zu den Stolpersteinen entwickelt, könnte das auch für solche Kommunen interessant werden, in denen keine Kooperation mit Demnig zustande gekommen ist oder vom Künstler aufgekündigt.

Nachtrag 2: Der Stolpersteine-Streit geht weiter

Mittlerweile ist die Debatte von mehreren Seiten wieder aufgegriffen worden: Die Münchner SPD-Basis rebellierte gegen die Haltung ihrer Stadtratsfraktion, die weiterhin gegen die Stolpersteine ist. Außerdem sprach sich Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, für die Stolpersteine aus.

In der ersten Juniwoche waren das heiße Eisen das Titelthema des Anzeigenblatts „Münchner Wochenanzeiger“. Im Artikel kam Terry Swartzberg vom Verein Stolpersteine München zu Wort. Er beteiligt sich derzeit auch an der Facebook-Gruppe seines Vereins. Außerdem werden am 9.6. auf dem Königsplatz die Namen der Unterstützer ausgerollt, die die Petition für die Stolpersteine unterzeichnet haben.

Nachtrag 3: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof im Dezember 2017

Der Verwaltungsgerichtshof urteilt: Stadt München muss Stolpersteine nicht erlauben

Stand: 16. Dezember 2017

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